Samstag Nacht, 4:00 Uhr. Das Smartphone springt an und „Morning Glory“ reißt mich sanft aus dem Schlaf. Na klar. Ich wollte ja heute Radfahren. Und zwar lang und weit. Von Berlin nach Greifswald. Und wieder zurück, um genau zu sein. Warum nochmal? Ach ja. Meine Eltern machen dort Urlaub und da dachte ich: Ach, warum nicht auf ein Mittagessen vorbeigucken. Und um mittags in Greifswald zu sein, so meine Planung, muss ich bei durchschnittlich 30 km/h und einigen Pinkelpausen eben um 5:00 in Berlin los. Also schiebe ich sanft Steffis Arm zur Seite und mache mich leise auf Richtung Badezimmer.
Beim Frühstück gehe ich noch einmal den Plan durch. Draußen ist es noch stockfinster aber laut Google ist Sonnenaufgang um 5:20. Lichter am Rennrad sind installiert. Reifen auf exakt acht Bar gepumpt. Meine Radklammotten inklusive Regenjacke liegen bereit. Es soll zwar schönes Wetter werden, aber lieber auf Nummer sicher gehen. In den letzten Wochen hat mich der Sommerregen schon zu häufig erwischt. Mein Proviant liegt auch schon bereit. Drei Brote mit Bio-Alsan und veganem Aufstrich, zwölf Powerkügelchen (Maca-Kakao-Dattel-Chiasamen), eine Handvoll Datteln und noch zwei Energieriegel aus pre-vegan Zeiten, die eben auch noch weg müssen. Sollte reichen für knapp 14 Stunden on the road. Außerdem zwei selbstgemachte Sportdrinks, Kokoswasser mit etwas frischer Zitrone und Matcha-Tee sowie Kokoswasser mit Mangosaft.
Nach einem umfänglichen aber kurzen Frühstück geht es also los. Berlin ist weiterhin finster aber am Horizont zeigen sich schon erste Anzeichen des Sonnenaufgangs. Leider ist es immer noch schweinekalt trotz Regenjacke und meine Finger sind bereits nach kurzer Zeit ziemlich taub. Auch mein Rhythmus will sich nicht so recht einstellen. Wie auch zu dieser Uhrzeit? Das ist der arme Rhythmus nicht gewohnt. Zu allem Übel sind die Ampeln schon alle voll in Betrieb und als rechtschaffener Radfahrer werde ich immer wieder ungewollt ausgebremst.
So kurble ich also mit mäßiger Geschwindigkeit und ebensolcher Laune durch die Vororte Berlins, hoffe dass mich kein betrunkener Autofahrer vom Rad holt und frage mich, was die Leute auf den Straßen so von mir denken. Rennradfahren um fünf Uhr morgens in Berlin ist ja nicht die alltäglichste aller Tätigkeiten. Einziger Radfahrer bin ich allerdings keineswegs. Es sind durchaus schon einige Pendler_innen unterwegs auf dem Weg zur Frühschicht. Oder sind sie auf dem Nachhauseweg von der „Spätschicht“? Ich halte es wie Peter Fox: „Frühschicht schweigt, jeder bleibt für sich“.
Erste Euphorie kommt dann auf als die Sonne an Stärke gewinnt und sich die Strahlen ihren Weg durch die Wolken bahnen. Meine Finger tauen, die Laune hebt sich. Ich schieße einige Fotos und Selfies im Fahren. Anhalten kommt noch nicht in Frage. Für Pausen muss (wenn überhaupt) später Zeit sein. Wie ich finde genießt man Sonnenaufgänge sowieso am Besten auf dem Rad.
Das Wetter könnte besser nicht sein. Nicht zu warm, nicht zu kalt und trocken. Einmal aufgewärmt und wach (unter anderem Dank des Matchas) finde ich meinen Rhythmus und komme mit einem 30er Schnitt gut voran. Die ersten 100 Kilometer vergehen damit im Nu. In Neustrelitz lege ich eine erste kurze Pause ein. Am Friedhof (Randonneur-Geheimtipp) fülle ich meine Wasservorräte auf und ein Dixie steht auch bereit. Schnell mache ich mich wieder auf dem Weg. Wenn der Rhythmus stimmt brauche ich keine großen Pausen und außerdem bin ich auf Grund des schleppenden Starts bereits ein wenig hinten dran.
Nachdem ich Neustrelitz hinter mir gelassen habe geht es weiter die B96 entlang. An den Straßenrändern finden sich zahlreiche weitere Beispiele, wie sich Autofahren auf die Natur auswirkt. Ich zähle zwei tote Hasen, einen Marder, einen Fuchs, eine Katze, drei Igel, und mehrere weitere tote Fellbündel (ich tippe auf Eichhörnchen). Kein Wunder bei dem Verkehr, der hier mittlerweile herrscht.
Schließlich muss ich auch noch durch das mittelgroße, eher unschöne und mit Ampeln vollgestellte Neubrandenburg. Den verpflichtenden (blaues Radfahrschild) gepflasterten Radweg lasse ich rechts liegen. Soweit geht meine Rechtschaffenheit nun doch nicht. Aber auch diese Hindernisse überwinde ich und finde mich schließlich doch noch auf schönerer Straße wieder. Es geht durch die Mecklenburgische Seenplatte. „Platt“ ist es hier aber keineswegs. Vielmehr zieht sich die Straße den ein um anderen Hügel hinauf und wieder hinab, was mich einiges an Kraft kostet, aber durch die herrliche Landschaft entlohnt wird. Und so verfliegen auch die zweiten hundert Kilometer und ehe ich mich versehe rolle ich bereits in Wiek, einem Vorort von Greifswald, in die Hafenstraße ein. Fünf nach zwölf. Erstaunlich pünktlich für eine 200 Kilometer lange Radfahrt.
Meine Eltern sind auch schon da. Wir suchen uns einen Platz in einem der zahlreichen Restaurants und speisen mit Blick auf den Hafen und die im Rahmen des Hafenfests auslaufenden historischen Segelschiffe. Der riesige Teller Spaghetti Napoli kommt mir gerade recht. Ich ruhe ein wenig bevor es nach kurzen zwei Stunden Pause auch schon wieder auf den Rückweg geht. Mit zahlreichen guten Wünschen und etwas zusätzlichem Proviant beladen geht es wieder los: Richtung Berlin!
Bei strahlendem Sonnenschein pedaliere ich gemütlich Richtung Heimat. Der auffrischende Fahrtwind hilft mir beträchtlich und so fahre ich bei geringer Anstrengung zwischen 30 und 35 km/h. So kann es weitergehen. Leider beginnt schon bald wieder die Mecklenburgische Hügelplatte. Doch auch dass lässt mein Tempo weitgehend unbeeinträchtigt. Einzig die Fußsohlen beginnen langsam heftig zu brennen und die Zehen sind taub. Auch der untere Rücken macht sich bereits bemerkbar. Nach anfänglichen Versuchen, die Füße durch Bewegung der Zehen aufzuwecken, merke ich, dass das die Füße nur noch mehr zum Brennen bringt. Dann doch lieber taub, aber ohne Schmerzen. Dagegen sind meine Rad-Yoga-Übungen erfolgreich. Die Yoga-Übung „Katze“ lässt sich nämlich auch relativ gut bei voller Fahrt ausführen. So bekämpfe ich erfolgreich aufkommende Rückschmerzen.
Nachdem die Schmerzen beseitig sind stellt sich wieder das erhabene Gefühl der Freiheit und scheinbaren Mühelosigkeit ein. Allerdings ist es bald schon wieder vorbei mit Friede, Freude, Sonnenschein. Es beginnt zu Regnen. Erst langsamer Niesel, dann immer stärker. Meine anfängliche Hoffnung, irgendwie am Regen vorbeizufahren, wird enttäuscht. Im Gegenteil. Ich fahre voll rein. Gut, dass ich die Regenjacke dabei habe und es Sommer ist. Schlecht, dass ich schon wieder auf der B96 bin und so den Dreck der Autos auch noch abbekomme. Trotz Rückenlicht und leuchtend gelber Regenjacke befürchte ich zunehmend auch als Roadkill am Wegrand zu landen.
Glücklicherweise passen alle auf und so rolle ich weiterhin zielstrebig auf Berlin zu. Noch 60 Kilometer, noch 40, noch 20 und schon finde ich mich wieder in den Vororten Berlins. Um die 400 Kilometer vollzumachen und die vielen Ampeln zu umgehen fahre ich noch einen kleinen Schlenker, so dass ich die letzten 10 Kilometer in der Abenddämmerung am Havelkannel (meiner üblichen Trainingsstrecke) entlang fahre. Schließlich biege ich in die Glasgower Straße ein und … es ist kaum zu fassen … bin zuhause. Dreckig, verschwitzt und nass. Aber ich bin da. Anfänglich fühle ich mich noch fit. Doch schnell stellt sich heraus, dass ich fertiger bin als gedacht. Nach einer kurzen Schüttelfrostattacke schafe ich es in die warme Dusche und schließlich verspeise ich sogar noch ein üppiges Abendessen ohne einzuschlafen. Dieses Versäumnis wird kurz darauf nachgeholt.
Es ist vollbracht. 400,2 Kilometer und 1.627 Höhenmeter sind mit durchschnittlich 29,5 km/h gefahren. 4 belegte Brote, 12 Powerbällchen, 1 Riegel, 1 Portion Spaghetti sind verspeist und ich habe meinen persönlichen Distanzrekord um schlappe 100 Kilometer übertroffen.
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