Auch eine Replik auf den ZEIT-Artikel von Marcus Rohwetter „Wie ich als Verbraucher beinahe den Verstand verlor“
Ich kann das gut verstehen, diese Überforderung angesichts von Komplexität. In letzter Zeit begegnet mir dieses Gefühl von Überforderung häufig. Zum Beispiel in diesem Talk von Courntey E. Martin, in dem sie über ihre Überforderung angesichts von Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit spricht. Ein ähnliches Überforderungs-Gefühl höre ich aus dem Text von Julia Engelmann heraus, wenn auch rhythmischer und weniger explizit politisch.
Ich kenne diese Überforderung gut. Gerade bei sozialen, globalen und ökologischen Zerstörungen und Ungerechtigkeiten fühle ich mich schnell klein in einer großen und komplexen Welt. Was kann ich schon ausrichten gegen eine Übermacht von globalen Konzernen, Autolobbies, (korrupten) Politiker_innen (oder – seien wir doch ehrlich, es sind vor allem Politiker und ein paar innen) und seit Jahrhunderten existierenden Machtsystemen wie Rassismus und Sexismus.
Syrien. Türkei. Las Vegas. Ohio. AfD. Österreich. #mee too. Diesel. Trump. Somalia.
You name it.
Vereinfachte Lösungen
Je komplexer die Sache, desto schwieriger die Entscheidung und umso größer die Überforderung. Und je größer die Überforderung desto attraktiver vereinfachte Lösungen.
Wie zum Beispiel:
Alle sind doof außer mir.
Oder
Ok, alle sind doof außer mir und denen, die so aussehen und denken wie ich.
Oder
Wir lassen einfach alles so, wie es ist.
Oder
Damals war alles besser.
Oder
Lass mal ne Mauer bauen.
Vereinfachte Lösungen sind deswegen vereinfacht, weil sie nur so wirken als wären sie einfach. In Wirklichkeit funktionieren sie nie, weil sie die verwirrende Komplexität ignorieren und durch Mauern und Grenzen zu bändigen versuchen.
Früher wars gut, heute schlecht.
Heute ist es gut, Veränderung ist schlecht.
Hier ist es gut, dort schlecht.
Wir sind gut, die sind schlecht.
Dass das irgendwie nicht stimmen kann, wird schon daran deutlich, dass sich einige der sogenannten Lösungen widersprechen. (Wie nun, ist es jetzt heute gut oder gestern oder morgen, oder wie?)
Das ist ganz schön kompliziert
Ich kann das gut verstehen, diese Überforderung angesichts von Komplexität. Statt allerdings vermeintlich einfache Lösungen anzubieten oder ihnen anzuhängen wäre es hilfreicher, einfach mal die Überforderung einzugestehen. „Ich weiß es auch nicht“, „das ist ganz schön kompliziert“ wären passende Sätze.
Ich fand zum Beispiel lange die Sache mit der Ernährung und dem Konsum allgemein ganz schön kompliziert und wusste auch nicht, was da jetzt richtig und was falsch ist. Das Thema Ernährung jedenfalls war mir viel zu komplex als es auf die Formel „Veganismus“ zu bringen.
Statt Fleisch Soja essen? Was soll das bringen – für Soja wird doch auch der Regenwald abgeholzt. Für Palmöl übrigens auch. Und Auberginen im Winter zu essen, ist jetzt nicht gerade regional und öko. Da ess ich doch lieber deutsche Kartoffeln und die Kuh von nebenan. Das ist doch besser als du mit deinen importierten Bananen und Avocados. Und Fisch ess’ ich sowieso nur welchen mit Siegel.
Ich wollte es auf jeden Fall richtig machen. Moralisch. Politisch. Ethisch. Ökologisch. Ich wusste nur nicht wie. Anstatt meine Überforderung zuzugeben, versuchte ich mich mit fairem Kaffee und regionaler Bio-Kuh zu rechtfertigen und die Widersprüchlichkeiten im Konsumverhalten anderer aufzudecken: Mhm, jaja, vegan Essen und dann bei Primark einkaufen, soso.
Die „vegane Ideologie“
Ich war sehr beschäftigt damit, es richtig zu machen.
In der letzten Ausgabe der ZEIT versucht Redakteur Marcus Rohwetter das auch. Er will „nach ethischen Maßstäben“ einkaufen. Dabei verstrickt er sich so sehr in der Komplexität, dass er am Ende erschöpft den Supermarkt verlässt und froh ist, die paar Meter nach Hause wenigstens in einem kleinen Auto und keinem SUV zurück zu legen.
Der fair produzierte Kaffee erhält möglicherweise kleinbäuerliche Strukturen und verhindert damit die die Industrialisierung des Globalen Südens.
Auch die Bio-Salami garantiert keine besseren Lebensbedingungen für das Tier darin.
Und in Bolivien demonstrieren Kinder für ihr Recht auf eben die Arbeit, die Herr Rohwetter mit dem Konsum von „unfairer“ Schokolade nicht unterstützen möchte.
Er ist so beschäftigt damit, die Widersprüchlichkeiten zu sehen und dabei auf der Seite der „Guten“ zu bleiben, dass er einfach aufgibt und alle Lösungsansätze als lächerlich abtut. Veganismus ist eine Ideologie, weg mit der Pflanzen-Diktatur. Das ist bequem für ihn, aber wenig hilfreich für die Leser_innen. Die Journalistin Iris Rohmann etwa twittert:
Ich hätte mir gewünscht, Hinweise zu kriegen, anstatt Verbraucher für überfordert zu erklären. Zwei Seiten wortreiche Verwirrung – muss nicht sein.
Meine neue Freundin, die Komplexität
Ich versteh ihn ja, den Marcus Rohwetter. Ich möchte auch so gerne zu den Guten gehören. In Wirklichkeit gib es aber gar nicht die Guten und die Bösen, wie im Märchen. Das ist schade, aber wahr. Die Guten und die Bösen trennen künstliche Grenzen, die vereinfachte Lösungen ermöglichen, die nicht funktionieren.
Ich schlage vor, das Märchen von den Guten und den Bösen aufzugeben. Ich bin nicht böse wenn ich Kuhmilch trinke. Und nicht gut, wenn ich es stattdessen mit Sojamilch probiere. Ich kann nicht alles richtig machen. Dafür bin ich zu sehr verstrickt in dieser komplexen Welt. Aber ich kann versuchen, verantwortlich zu handeln. Für mich ist das mehr, als mich damit zufrieden zu geben, irgendwie „besser“ zu sein als der Durchschnitt und ansonsten alles beim Alten zu lassen.
Ich habe angefangen, mich mit der Komplexität der Welt anzufreunden. Seitdem kann ich viel leichter irgendwo anfangen und dann weitermachen. Ich halte Veganismus noch immer nicht für die Lösung für alles. Aber definitiv für einen Anfang. Und seit ich den Anfang gefunden habe, fällt es mir viel leichter, weiter zu gehen.
Hinweise statt mehr Verwirrung gibt es übrigens zum Beispiel hier:
Zum Gucken: Filme „Cowspiracy“ und „What the Health“
Zum Lesen: Bücher auf dieser Liste und diese Artikel:
http://pinterest.com/ridingrhino/riding-rhino-friends/
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